Sonntag, 7. Februar 2010

Über die Formbarkeit des kindlichen und jugendlichen Gehirns

Immer wieder erlebe ich im Zusammenhang mit meiner Arbeit als Privatlehrer erstaunliche und schwer vorhersehbare kognitive Entwicklungen von Jugendlichen.

Jahrelang haben einzelne Kinder beispielsweise grosse Mühe im Umgang mit mathematischen Fragestellungen. Diese Tatsache kann sich dann schlagartig ändern. Einige Jugendliche erlangen plötzlich ein erstaunliches Verständnis für das Fach, ein Verständnis, welches sich durch blosses Trainieren bzw. Auswendiglernen nicht erklären lässt.

Landläufig sagt man dann: „Jetzt isch em/ire de Chnopf ufgange.“

Seit ich professionell Förderunterricht erteile, erlebe ich diese Entwicklungen noch viel häufiger als früher, als ich noch als Sekundarlehrer an der Volksschule unterrichtete.

Wie lassen sich diese oft überraschenden Leistungsschritte erklären?

Am National Institute of Mental Health (NIMH) in Bethesda (USA) wird seit nunmehr 14 Jahren die Entwicklung jugendlicher Gehirne systematisch untersucht. Festgestellt wurde ein Wachstumsschub der grauen Substanz des Gehirns während der Pubertät. Aus der grauen Substanz besteht vor allem die mit kognitiven Aufgaben betraute Grosshirnrinde.

Forscher vermuten, dass sich die Nervenzellen im Gehirn neu verzweigen und sich neue Kontaktstellen zwischen ihnen bilden. Der Denkapparat verschafft sich so eine riesige Menge neuer Verbindungen, mit deren Hilfe das Gehirn Informationen verarbeiten und verschalten kann. Die neue Vielfalt reduziert sich später aufgrund von Erfahrungen wieder. Häufig beanspruchte Verknüpfungen bleiben erhalten und werden manchmal sogar verstärkt. Kaum benutzte Verschaltungen verkümmern oder verschwinden!

Dieser Prozess geht während der Oberstufenzeit von statten und könnte die plötzlichen Veränderungen der kognitiven Leistungsfähigkeit einzelner Jugendlicher erklären.

Statt „Jetzt isch em/ire de Chnopf ufgange.“ müsste man gemäss diesen neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen eher sagen: „Jetzt haben sich günstige Verknüpfungen gebildet.“ Wesentlich scheint mir, dass diese Verknüpfungen nicht von Geburt an vorhanden sind. Gemäss den Ergebnissen der erwähnten Untersuchungen entstehen sie auch nicht von selbst. Sie müssen sehr wahrscheinlich mehr oder weniger hart erarbeitet werden.

Meine Schüler frage ich jeweils, ob sie schon einmal einem älteren Menschen hätten das Handy oder einen modernen Wecker erklären müssen. Diese Frage wird meist mit einem tiefen Seufzer quittiert. Warum tun sich ältere Menschen so schwer mit diesen technischen Hilfsmitteln? Im Gegenzug habe ich noch nie einen Jugendlichen getroffen, der Mühe gehabt hätte, sein Handy oder seinen iPod zu bedienen? Sind also alte Menschen dümmer als junge?
Die Antwort auf die Frage liegt in der Vergangenheit. Jungen Menschen sind diese technischen Geräte seit je vertraut. Ihre Gehirne haben in der Kindheit und im Jugendalter die nötigen Verknüpfungen gebildet, auf welche sie lebenslang zurückgreifen können. Ältere Menschen hatten dazu keine Gelegenheit, weil es diese Geräte in ihrer Jugend noch nicht gab. Die Bedienung solcher Gadgets bleibt für Menschen im entsprechenden Alter meist anstrengend.

Für mich wurden durch die Studie am NIMH wesentliche Erkenntnisse aus meiner beruflichen Praxis bestätigt: Die Möglichkeit ein kindliches bzw. jugendliches Gehirn zu trainieren und zu formen, sind enorm. Gezielte Förderung kann die kognitiven Fähigkeiten eines Menschen fundamental und nachhaltig optimieren. Vermutlich spielt die angeborene, genetisch bedingte Intelligenz eher eine untergeordnete Rolle. Viel entscheidender ist wahrscheinlich, wie und in welcher Qualität das Kind von seiner Geburt bis zum zwanzigsten Lebensjahr (Ausreifung des Präfrontalhirns) gefördert und gefordert wird. Die Psyche (u.a. der Wille) und die Umwelt (u.a. Familie, Schule und Gesellschaft) beeinflussen das sich entwickelnde Gehirn massgeblich.


Besuchen Sie meine Homepage: www.lernpilot.ch