Sonntag, 7. August 2011

Selbstgesteuertes Lernen – für viele Kinder ein Problem!

Am 21. Oktober 2009 erschien in der NZZ-Onlineausgabe ein Artikel mit dem Titel «Selbstgesteuertes Lernen als neues Evangelium». Der Artikel wurde von Dr. Roger Scharpf verfasst.

Auf eine Aussage möchte ich im Folgenden besonders eingehen. Sie weist auf einen weit verbreiteten Irrtum hin: «Viele gehen davon aus, dass selbstgesteuert automatisch auch individualisiert bedeutet.»

Eltern wünschen sich, verständlicherweise, eine möglichst individuelle Betreuung für ihre Kinder in der Schule. Die Reaktion der Erziehungswissenschaft bzw. der Bildungspolitik auf diese Forderung ist unter anderem die Implementierung des selbstgesteuerten Lernens in der Volksschule. Es wird heute mit Lernplänen im Lernatelier gearbeitet. Beim Erarbeiten der Inhalte und bei der Korrektur zählt man massgeblich auf die Eigenverantwortung der Kinder.

Gerade in der Oberstufe erschwert aber die Pubertät das selbstgesteuerte Arbeiten zusätzlich. Aktuelle neurologische Erkenntnisse belegen, dass Pubertierende u.a. Mühe mit dem Planen und dem Erkennen von Unterschieden haben. Beides spricht, zumindest während dieser Lebensphase, gegen Lernplan und Selbstkorrektur. Es ist gut möglich, dass sich die zeitgenössische Pädagogik zu stark am erwachsenen, ausgereiften Gehirn orientiert.

Folgende Erfahrung stützt diese Erkenntnis: Heute kommen zunehmend Schüler zu mir in den Unterricht, die nicht mehr nur Wissenslücken aufweisen, sondern sich auch falsche Sachverhalte angeeignet und antrainiert haben. Sie haben sich offenbar selbständig eines Inhalts angenommen und diesen falsch interpretiert. Niemand hat die Fehlüberlegung erkannt bzw. korrigiert. Erst bei der Prüfung wird der Missstand dann aufgedeckt. Leider ist es dann für eine notenrelevante Korrektur zu spät.

Die Unterrichtsmethodik ist meiner Ansicht nach so oder so nicht der entscheidende Faktor für den Grad der Individualisierung. Vielmehr spielen Klassengrösse und die Bereitschaft der Lehrer zur kontinuierlichen Korrektur der Schülerarbeiten eine Rolle. Denn nur wer die Arbeiten seiner Schüler jederzeit genau kennt, kann auch individuell unterstützen.

Ein gewisser Prozentsatz der Kinder profitiert stark vom selbstgesteuerten Lernen. Vermutlich ist es aber eine Minderheit und wahrscheinlich gehören zu dieser Gruppe eher Mädchen. Viele Knaben brauchen erfahrungsgemäss klare, überschaubare Ziele, auf welche eine möglichst unmittelbare Rückmeldung erfolgt.

Für mich ergibt sich folgendes Resümee: Eine grosse Gruppe von Schülern kommt mit dem selbstgesteuerten Lernen nicht klar. Glücklicherweise fassen sie bei einem Methodenwechsel oft rasch wieder Fuss und legen dann wieder solide Leistung an den Tag. Voraussetzung dazu ist aber, dass Schüler, Eltern oder Lehrer das Problem vor einem nächsten Laufbahnschritt erkennen. Leider werden Leistungsdefizite oft erst im Zusammenhang mit einer Aufnahmeprüfung oder einem externen Leistungstest, z.B. bei der Lehrstellensuche gegen Ende der Schulzeit, konstatiert. Für Eltern lohnt es sich also, stets ein wachsames Auge auf die schulischen Leistungen ihrer Kinder zu werfen.